Der Raum zwischen den Ikonen

Das Vitra Design Museum, eines der ersten ausschließlich dem Design gewidmeten Museen, befindet sich auf einem Campus voller architektonischer Meisterwerke und beherbergt in seiner Sammlung 20.000 Exponate von einigen der weltweit bedeutendsten Meister:innen dieser Disziplin. Direktor Mateo Kries verlagert seinen Fokus von den Ikonen auf all das, was diese umgibt.

Im Jahr 1981 zerstörte ein Großbrand weite Teile von Vitras Produktionsstätten in Weil am Rhein nahe Basel. Rolf und Raymond Fehlbaum, die beiden Söhne der Unternehmensgründer:innen, wandelten diese Krise in eine Chance um und nahmen sie zum Anlass, den Fabrikcampus umfassend neu zu denken. In den Folgejahren entwarf der englische Architekt Nicholas Grimshaw ein neues Gebäude. Anschließend errichteten der Künstler Claes Oldenburg und die Künstlerin Coosje van Bruggen eine riesige Skulptur vor der Fabrik, die einen Hammer, eine Zange und einen Schraubenzieher zeigt – die drei Hauptwerkzeuge in der Polsterei. Später gestaltete dann Frank Gehry, einer der am meisten gefeierten Architekten des 20. Jahrhunderts, ein gewundenes Gebäude mit weiß verputzter Fassade, das 1989 als das neue Vitra Design Museum eröffnet wurde.

Der italienische Designer Bruno Munari schrieb einmal: „Der Traum eines Künstlers ist, dass sein Werk in einem Museum ausgestellt wird. Der Traum eines Designers ist, dass sein Werk auf dem Markt, der Straße, ankommt.“ Mit dem Ende der 1980er-Jahre begann das Design dann aber, seine Rolle als kulturelle Triebkraft zurückzuerobern, statt nur von der Industrie als Werkzeug genutzt zu werden, um die Massen zu erreichen.

„Davor war Design einfach ein Unterbereich in größeren Museen, wie dem MoMA oder dem Centre Pompidou,“ erklärt der Direktor des Vitra Design Museums, Mateo Kries. „Wir waren das erste Museum, das sich exklusiv dieser Disziplin gewidmet hat, gemeinsam mit dem im selben Jahr eröffneten Design Museum in London.“

Ursprünglich stellte das Vitra Design Museum eine private Sammlung aus, mit Möbeln aus dem Nachlass des US-Designerpaars Charles und Ray Eames, den Vitra ein Jahr zuvor erworben hatte, sowie dem vom dänischen Designer Verner Panton entworfenen Panton Chair – dem ersten durch Vitra unabhängig entwickelten Objekt aus dem Jahr 1960. Im von Gehry gestalteten Gebäude wurden solche für den Massenmarkt designten Produkte als Ikonen innerhalb einer Ikone präsentiert: Auf Hochglanz poliert und auf ein Podest gestellt, sollten Besuchende sie wie Kunstwerke bewundern. „Für jemanden in meiner Position ist das etwas paradox und ambivalent,“ überlegt Kries. „Sobald man etwas in einem Museum ausstellt, wird es ein Sammlerstück, das nur noch für eine sehr kleine Anzahl von reichen Sammler:innen erhältlich ist. Dafür ist Design jedoch nicht gedacht. Design sollte für viele Menschen verfügbar sein.“

Nicht lange nach seiner Gründung erweiterte sich der Fokus des Museums über die Unternehmensgrenzen hinaus: Der damalige Direktor Alexander von Vegesack erwarb Stücke von Designer:innen, die nie für Vitra tätig waren, gründete einen Verlag und organisierte international gefeierte Ausstellungen zu Frank Lloyd Wright, Luis Barragán, den Eames sowie dem tschechischen Kubismus und der Zukunft der Mobilität. „Von Anfang an war das Museum sowohl für Design als auch Architektur und die Künste offen“ fährt Kries fort, der 1995 als Praktikant zum Museum kam. „Wir waren mehr daran interessiert, die Symbiosen zwischen verschiedenen Feldern zu erkunden, als die Unterschiede zu definieren.“ Dieser Ansatz bereitete das Museum auf die Veränderungen vor, die um die Jahrtausendwende den Design-Diskurs in Richtung einer breiteren, kritischeren Sichtweise verschoben. Der Fokus hat sich vom Objekt selbst auf seine Umgebung hin verlagert und darauf, was es mit der übrigen Gesellschaft verbindet.

„Wir müssen den Menschen nicht länger sagen, dass ein Objekt eine Ikone sein kann. Das wissen sie bereits. Viel interessanter ist es, ihnen zu erklären, dass Ikonen einen Hintergrund und ein Nachleben haben“, fügt Kries an. Seit er 2020 zum alleinigen Direktor des Museums wurde, hat sich Kries bei der Planung von Ausstellungen und dem Erwerb von Stücken für die Dauerausstellung zunehmend den Themen Nachhaltigkeit und Diversität gewidmet. Mit seinem Team arbeitet er derzeit daran, weniger bekannte Stücke der Schweizer Designgeschichte ausfindig zu machen, insbesondere Werke von Frauen. Ein Beispiel hierfür ist der stapelbare Freischwinger-Stuhl, den die Architektin Flora Steiger-Crawford für das Zett-Haus entwarf – das in den 1930er-Jahren erbaute, erste moderne Multifunktions-Bürogebäude in Zürich.

„Viele Designtraditionen sind von einem Ökosystem geformt, das über Design hinausgeht“, fährt er fort. „In Deutschland ist Design mit der Stahlindustrie verbunden. In Frankreich hat es mehr mit Innendekoration und deshalb mit Handwerk zu tun. Die Schweiz liegt irgendwo zwischen diesen beiden Welten: Objekte werden mit innovativen Maschinen und Technologien geschaffen, aber oft durch eher kleinere Unternehmen, die auch viel manuelle Arbeit einsetzen. Diese Mittelposition zwischen Ingenieursdenken und hochqualifizierter Umsetzung ist eine gute Voraussetzung für Innovation und Qualität. Außerdem spielt Verantwortung eine Rolle. In einem kleinen Land kann man sich keinen Quatsch erlauben.“

Die Fehlbaums wissen das allzu gut. Während ihres stetigen Aufstiegs zu einer der renommiertesten und beliebtesten Möbelmarken der Welt für den Büro- sowie Heimbereich haben sie nie ihren Sinn für Ausgewogenheit und den Respekt für ihre Ursprünge verloren. Heute ist Vitra auf der ganzen Welt tätig, doch die Entscheidungen trifft mit Raymonds Tochter Nora, die der dritten Generation angehört, weiterhin ein Familienmitglied – von einem Büro aus, das nicht weit vom Gründungsort des Unternehmens entfernt liegt. Auch der hohe Grad an Unabhängigkeit, den das Unternehmen dem Museum stets eingeräumt hat, reflektiert diese Grundeinstellung. Die Mitarbeitenden des Museums müssen das Unternehmen nicht über ihre Aktivitäten informieren oder Ausstellungen genehmigen lassen. Andererseits nutzen viele Vitra-Mitarbeitende das Museum als Inspirationsquelle oder entdecken in der Sammlung vergessene Designs, die sie wieder in die Produktion bringen.

Dank seiner redaktionellen Freiheit konnte das Vitra Design Museum einen hohen Bekanntheitsgrad erlangen, Kooperationen mit öffentlichen Museen und Stiftungen auf der ganzen Welt eingehen, weitere Unternehmenssponsoren anwerben und letztlich ein viel größeres Publikum erreichen. „Wir finden es gut, viele Menschen zu erreichen und Designthemen in eine verständliche Sprache zu übersetzen,“ sagt Kries. „Wir möchten auf eine positive Art populär sein.“ Beispielhaft für diese Haltung ist die Ausstellung, die derzeit im Gehry-Gebäude gezeigt wird. Sie trägt den Namen „Nike: Form Follows Motion“ und legt den Fokus auf die Designgeschichte der Sportbekleidungsmarke, vom Swoosh-Logo bis hin zu den kultigsten Sneaker-Modellen und der aktuellen Forschung zu Zukunftsmaterialien und Nachhaltigkeit. Als Nächstes steht eine Ausstellung zu den Shakern auf dem Programm, einer in den USA seit dem späten 18. Jahrhundert aktiven religiösen Gruppe, mit einem Ausstellungsdesign vom gefeierten zeitgenössischen Duo Formafantasma.

Besuchende des Vitra Design Museums können sich auch das Vitra Schaudepot ansehen, ein von den Architekten Herzog & de Meuron designtes Gebäude, in dem seit 2016 eine rotierende Auswahl von etwa 400 Designstücken aus der Museumssammlung gezeigt wird. Insgesamt umfasst die Sammlung 20.000 Objekte, darunter moderne Ikonen von Le Corbusier, Alvar Aalto und Gerrit Rietveld, sowie zeitgenössische 3D-gedruckte Möbel und weniger bekannte oder anonyme Objekte, Prototypen und experimentelle Modelle. Der Campus selbst ist ein Paradies für Architektur- und Designfans: Bei einem Spaziergang durch das Gelände, das einem kleinen Stadtviertel gleicht, können Besuchende ein von Zaha Hadid gestaltetes Feuerwehrhaus, einen von Tadao Ando erdachten Konferenzpavillon, ein von Álvaro Siza entworfenes Fabrikgebäude und eine der für Richard Buckminster Fuller typischen geodätischen Kuppeln finden. Zu den jüngsten Ergänzungen auf dem Campus zählt Khudi Bari, ein kleines Pfahlhaus, das die Architektin Marina Tabassum aus Bangladesch als greifbare Antwort auf die Fluten entwickelt hat, die in ihrem Land immer wieder Menschen vertreiben. „Gleich daneben haben wir einen Sitzbereich geschaffen. Es ist herrlich, hier im Sommer zu sitzen und einfach die Natur zu genießen,“ sagt Kries. „Heute geht es nicht mehr so sehr um die Gebäude, sondern um das, was zwischen ihnen geschieht. Der Fokus hat sich vom Beton zur Natur gewendet“.

Im Sommer unternimmt der Museumsdirektor gerne einen 20-minütigen Spaziergang den Hügel hinauf, der sich über dem Campus erhebt. Hier atmet er frische Luft und genießt den weiten Ausblick über Basel, eine einzigartige Stadt an der Grenze zu drei Ländern: Frankreich, der Schweiz und Deutschland. Von diesem Aussichtspunkt mitten im Herzen Europas aus sieht er die Industrie der Stadt auf der einen Seite und den Schwarzwald auf der anderen. Es gibt wohl keinen besseren Ort, um innezuhalten und über die Zukunft des Designs nachzudenken.

Mateo Kries ist seit 2011 Direktor des Vitra Design Museums. Neben weiteren Publikationen hat er das Buch Total Design (2010) verfasst, im dem er die zunehmende Kommerzialisierung des Designs untersucht, und ist Mitherausgeber des umfangreichsten je publizierten Buchs zu Möbeldesign, des Atlas of Furniture Design (2019).

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